Kolumne: Reisen statt Urlaub machen

Es ergab sich, dass irgendwo einmal mein Ohr bei jemandem zu Besuch war (türkische Redewendung) und so schnappte ich bei dieser Gelegenheit folgende Aussage auf: "Wir sollten mehr Reisen und weniger Urlaub machen". Ist denn Reisen und Urlaub nicht dasselbe? Fahre oder reise ich nicht in den Urlaub oder in die Ferien? Es ist wohl eine Frage von Definitionen. Beim Urlaub habe ich meist ein Ziel, wogegen ich bei einer Reise einen Weg gehe, also unterwegs bin.


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Trekking im Kluane Nationalpark, Kanada

© Text und Fotos: Andreas Zimmermann

Eine Vorlesung von Johan Galtung

Ich erinnere mich an einen Gastvortrag des bekannten norwegischen Soziologen und Friedensforschers Johan Galtung an der Universität Bern. Seine These war, dass Konflikte durch das Aufeinandertreffen verschiedener Weltbilder entstehen. In seinem Referat stellte er also zwei Weltbilder sehr vereinfacht schematisch einander gegenüber. Das "westliche" Weltbild welches geprägt ist durch das Christentum stand einem "östlichen" Weltbild gegenüber, welches Elemente des Taoismus und Buddhismus enthielt.

Christliche Kreuze
Christentum
Buddhistischer Tempel

Buddhismus

Mir erscheint nun, dass Ferien und Urlaub mehr dem "westlichen" und das Reisen eher dem "östlichen" Weltbild entspricht. Aber fangen wir doch erst bei den zwei Weltbildern an:

"Westliches" Weltbild

Das westliche Weltbild oder auch die westliche Philospphie ist linear und statisch, geprägt durch zwei Pole: Aktion - Reaktion, Ursache - Wirkung, schwarz - weiss, entweder - oder, Leben - Tod, gut - böse, Anfang - Ende. Angst vor Veränderung.

"Östliches" Weltbild

Das östliche Weltbild oder auch die östliche Philosophie zeigt sich wellenförmig und dynamisch, wie eine Sinuskurve. Es ist ein ewiges Dahinfliessen ohne Anfang und Ende, sehr schön symbolisiert durch Ying und Yang, wo im Einen immer schon sein Gegenteil vorhanden ist und die in dynamischer Beziehung zueinander stehen. Veränderung als Prinzip.

Reisen oder Urlaub?

Für die Meisten stellt sich die Frage wohl gar nicht, weil sie an der zeitlichen Dimension scheitert. Der Urlaub ist nun Mal begrenzt, dauert vielleicht zwei Wochen, hat also Anfang und Ende. Dadurch wird alles bereits im voraus organisiert, das Ziel ist klar definiert und wir wissen ganz genau was uns erwartet. Jede Unsicherheit wird im voraus ausgeschaltet. Uns erwartet das was wir kennen.
Wenn ich in Rente gehe werde ich Reisen hört man oft, dann habe ich die nötige Zeit. Ist zu diesem Zeitpunkt aber der nötige Mut noch vorhanden?

Bei einer Reise ist meist nur das grobe Ziel vordefiniert zum Beispiel Appalachian Trail, Jakobsweg, Australien oder Yukon. Der Rest ergibt sich von Tag zu Tag. Nichts ist organisiert. Nach einer gewissen Zeit weiss ich auch nicht mehr wann der Anfang war und wo das Ende ist. Die Tage fliessen dahin und sind geprägt von Veränderung, Herausforderungen, Begegnungen und neuen Erkenntnissen. Der erste Schritt macht vielleicht Angst, braucht Mut, doch eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem einzigen Schritt (Laotse 604 - 531 v. Chr.). Wenn also die Zeit vorhanden ist, ist eine Reise jedem Urlaub vorzuziehen. Ich wünsche Ihnen viel Mut dazu.